„Unsere Daten sind nicht sauber genug.“ „Wir haben nicht genug historische Daten.“ „Wir müssen erst alles digitalisieren.“
Solche Einwände hören wir regelmäßig in Gesprächen mit unseren Kunden aller Industrien. Dahinter steckt ein hartnäckiger Trugschluss: Künstliche Intelligenz brauche eine riesige, saubere und perfekt strukturierte Datenbasis, um zu funktionieren.
Genau diese Sichtweise verlangsamt allerdings viele Projekte, denn Industriedaten sind selten perfekt: oft unvollständig, verrauscht und heterogen. Das schließt jedoch den Einsatz von KI und Data Science nicht aus. Ganz im Gegenteil: Gerade in solchen Umgebungen kann KI besonders wirksam sein.
Daten erzeugen statt abwarten
Ein erster Paradigmenwechsel besteht darin, sich von der Vorstellung zu lösen, dass KI nur auf Basis umfangreicher vorhandener Datenmengen eingesetzt werden kann. Es ist zwar in vielen bekannten Fällen zutreffend, dass ein Modell mit Daten aus der Vergangenheit trainiert wird, um zukünftige Eingaben zu interpretieren. Allerdings geht es in vielen industriellen Anwendungen nicht um Vorhersagen, sondern um Optimierung unter Einschränkungen (Fläche, Personal, Kapazitäten, Maschinen, Lagerbestände etc.).
Statt die Vergangenheit als Datenquelle zu nutzen, werden für solche Modelle synthetisch erzeugte Parameter verwendet. Sie bilden die reale Umgebung und deren Einschränkungen virtuell ab. In dieser simulierten Welt kommen Modelle des Reinforcement Learnings oder Optimierungsverfahren unter Randbedingungen zum Einsatz. So lassen sich optimale Strategien in Situationen finden, in denen die Anzahl der Parameter die menschliche Entscheidungsfähigkeit übersteigt.
Konkretes Beispiel
• Ein Hersteller komplexer industrieller Systeme rechnet mit einem deutlichen Anstieg der Auftragslage und möchte die Resilienz seiner Produktionslinien simulieren.
• Die Analyse unseres Teams konzentrierte sich auf Engpassstationen in der Fertigung, bei denen die Planung bisher auf Erfahrungswerten der Bediener beruhte und damit nicht systematisch optimiert war.
• Die kombinatorische Komplexität dieser Planung, verursacht durch variierende Prozessrouten und Zykluszeiten an kapazitätsbeschränkten Stationen, machte den Einsatz datengetriebener Verfahren erforderlich. Innerhalb kürzester Zeit konnten Millionen Szenarien durchgerechnet und optimale Lösungen identifiziert werden. Eine solche Leistung wäre mit menschlicher oder analytischer Planung allein nicht möglich gewesen.
• Durch die Modellierung von Arbeitsstationen, Produktvarianten und physischen Randbedingungen konnte der Hersteller ohne zusätzliche Investitionen mehr als 20 % zusätzliche Produktionskapazität erschließen.
Unvollkommene Daten können wertvoll sein
Selbst wenn die Daten unvollständig, verrauscht oder heterogen sind, kann Data Science einen Mehrwert schaffen. Sie hilft etwa dabei, kohärente Datensätze aus fragmentierten Informationen zu rekonstruieren. KI-Modelle können außerdem Anomalien in historischen Daten erkennen, fehlende Zeitreihen ergänzen, Verzerrungen korrigieren oder Ersatzdaten generieren.
Konkretes Beispiel
• Ein Rüstungshersteller wollte die Effizienz seiner Materialflüsse über fünf Standorte hinweg verbessern und die bestehende Logistikorganisation hinterfragen.
• Im ersten Schritt wurden alle historischen Transportwege auf Basis lückenhafter ERP-Daten rekonstruiert. Das Datenvolumen (~ 2 Mio. Bewegungen), die Vielzahl möglicher Transportarten (40 dokumentierte Logistikaktionen) sowie fehlende Differenzierung bei gleichartigen Artikeln erforderten eine automatisierte Analyse. Um den Weg aller einzelnen Komponenten über die letzten zehn Jahre zurückzuverfolgen, wurde ein kundenspezifisches statistisches Modell entwickelt.
• Auf Basis dieser rekonstruierten Daten wurde ein überwachtes Machine-Learning-Modell trainiert, das alle Logistikpfade als „normal“ oder „unregelmäßig“ klassifizierte.
• Das Modell identifizierte über 15 % der Wege als unbegründet. Auch hier wäre diese Analyse aufgrund der Datenmenge und Komplexität menschlich allein nicht zu leisten gewesen.
Wie dieses Beispiel zeigt, kann Data Science auch aus unvollständigen Daten Erkenntnisse gewinnen und konkreten wirtschaftlichen Mehrwert schaffen.
Industrielle KI: Angewandte Mathematik und Pragmatismus
Industrielle KI ist nicht auf die generativen Tools beschränkt, die aktuell im Fokus stehen. Es geht in erster Linie um angewandte Mathematik und die Lösung komplexer Probleme, die auf den jeweiligen industriellen Kontext zugeschnitten sind.
Dabei ist KI kein fertiges Standard-Produkt, sondern ein individueller Analyseansatz. Der wahre Mehrwert entsteht durch präzise algorithmische Modellierung komplexer, oft nicht reproduzierbarer Situationen. Das setzt die Akzeptanz von Unsicherheit voraus und erfordert gezielte Experimente: schnelle Proofs of Concept, Wertnachweise, dann schrittweise Implementierung.
Diese methodische Strenge ist entscheidend, um aus Ideen echten Mehrwert zu schaffen. Entscheidend ist nicht das Tool, sondern seine Passgenauigkeit zur realen Komplexität.
Fazit: Industrielle KI verdient eine neue Perspektive
Der wahre Wert industrieller KI liegt nicht im massenhaften Sammeln perfekter Daten, sondern in der Fähigkeit, vorhandene Informationen intelligent zu modellieren, zu ergänzen und nutzbar zu machen. Ob durch synthetisch modellierte Daten zur Optimierung industrieller Strategien oder durch die Aufwertung unvollständiger und verrauschter Datensätze – die Potenziale sind real und bereits heute zugänglich.
Anstatt auf ideale Bedingungen zu warten, die vielleicht nie eintreten, ist es Zeit, KI dort einzusetzen, wo sie den größten Nutzen bringt: im Herzen industrieller Komplexität. Genau dort entfaltet sie ihre wahre transformative Kraft.